Hans Adler: Weberliteratur und soziale Frage im Vormärz .
- In: Lutz Kroneberg, Rolf Schloesser: Weber-Revolte 1844. Der schlesische Weberaufstand im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik und Literatur, Köln: c.w.leske, 1. Aufl. 1979, S. 265–278
“ Ist es schwer, der Mammonslust den Kainsstempel aufzudrücken , für uns, die wir wissen, daß dieser Götze keinen anderen Segen spendet als den Becher unnatürlicher Lust, gefüllt mit den Thränen der Brüder, gefüllt mit dem Herzblut der Menschheit?” 1) — ein Satz aus einer Predigt von 1845, der sich mit einem damals neuen Problem, der “sozialen Frage”, befaßt; ein Satz, der den heutigen Leser ebenso überrascht wie der deutliche Kontrast zwischen den in diesen Band aufgenommenen publizistischen und den literarischen Texten; aber auch ein Satz, der charakteristisch ist für eine seinerzeit weitverbreitete Perspektive, aus der heraus die ´soziale Frage´ betrachtet wurde. Er bedarf — wie die damalige soziale Literatur — der Übersetzung. Setzte man etwa in dem Predigitzitat für den ´Becher unnatürlicher Lust´ Profitstreben oder gar Ausbeutung, so würde klarer, um was es sich handelt, nämlich um den Versuch, Kapitalismus in pietistischem Vokabular zu erfassen. Charakteristisch daran ist nicht, daß hier ein bornierter Schwärmer sich unbefugt ins Gebiet der Ökonomie vorgewagt hätte, wo kompetente Theoretiker bereits Klarheit geschaffen hätten. Charakteristisch an dem Satz ist vielmehr, daß beim Versuch, die Erscheinungen der Industrialisierung zu erfassen, auf Erklärungsmodelle zurückgegriffen werden muß, die einem anderen Diskurs als den einsschlägigen, dem polit-ökonomischen und dem sozialpolitischen entstammen.
Mit Befremden nimmt der heutige Leser zur Kenntnis, auf welche oft seltsame Weise in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts von den Auswirkungen der Industrialisierung gesprochen wird, und allzu schnell ist er geneigt, ´Triviales´, Naives oder Abwegiges zu entdecken. Die vorschnelle Aburteilung ist aber — vor allem mit Blich auf die Literatur zur sozialen Frage — in zweierlei Hinsicht ideologieträchtig. Einerseits gbit bei dieser Urteilsfindung heutiges Wissen die Grundlage ab, eine Voraussetzung, die so tut, als verlaufe Geschichte eindeutig zielgerichtet und erlaube also, damals ´Wichtiges´von damals ´Unwichtigem´ zu scheiden. Anders gesagt: Erst eine Aufarbeitung der historischen Bedingungen der Möglichkeit von sozialer Literatur gestattet eine Beurteilung dieser Texte. Andererseits findet das Verdikt, die soziale Literatur sei Trivial-, Tendenzliteratur oder gereimter Leitartikel, eine wesentliche Stütze in den normativ verstandenen Sätzen der klassisch-romantischen Ästhetik. Auch dies ist ein ungeeigneter Maßstab für die Bewertung der Literatur des Vormärz, da gerade diese Position in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts lautstark programmatisch bekämpft wurde. Einer der wenigen Kenner des Materials der sozialen der sozialen Literatur, Erich Edler, hat denn auch in aller Bescheidenheit zunächst versucht, diese beiden Klippen zu umschiffen und seine außerordentlich materialreiche Arbeit als ´Fleißarbeit, Forschungsbericht und Panorama vielfältiger Autorenmeinungen´2) präsentiert. Er gibt einen sehr weiten Überblick über diejenige Literatur, die sich — allen Schöngeistern um Trotz — nicht zu schade war für die Aufnahme und Verarbeitung der ´sozialen Frage´, genauer: der Folgen der Industrialisierung. Neben Eisenbahnbau, dem Bergbau und der Stahlindustrie wirkte sich die Industrialisierung am spektakulärsten in der Textilindustrieaus: Es entstand nach Vorläufen von Pestalozzi, Salzmann und Bräker 3) im Vormärz eine Art ´Weberliteratur´. Die vorliegende Anthologie gibt erstmals typische Proben davon.
2
Die fortgeschrittene Mechanisierung der Textilindustrie in England und Frankreich und — mit einiger Verzögerung — auch in Deutschland bewirkte die totale Verarmung der Spinner und Weber, bei ihnen war die Not am deutlichsten sichtbar. Von den frühen vierziger Jahren an waren die ´armen Spinner und Weber´zumindest der zeitungslesenden Öffentlichkeit ein Begriff. Die Literatur, genauer: die Belletristik, nahm sich seit 1843 ihrer an, zuerst Ernst Willkomms Romen ´Eisen, Gold und Geist´. Es folge, vor allem nach dem Webereaufstand im Juni 1844, eine wahre Flurt von ´Weberliteratur´, geschrieben von Autoren, von denen die meisten heute nicht einmal mehr dem Namen nach bekannt sind: Alexander von Ungern-Sternberg, Otto Ruppius, Carl Schloenbach, Robert Prutz, Otto Louise, Louise Aston und viele mehr. Gedicht, Novellen, Skizzen, Erzählungen, ´Daguerreotypen´und umfangreiche Romane erschienen zum Thema ´Die Not der Spinner und Weber´.
Warum war dieses Thema so marktträchtig und wie wurde es behandelt?
Um eines in aller Deutlichkeit vorwegzunehmen: Der Weberaufstand vom Juni 1844 war nicht der Grund für die Entstehung dieser Literatur, sondern allenfalls der Anlass für die massenhafte literarische Behandlung der Misere. Nur setlen wird auf das historische Ereignis Bezug genommen und auch dann meist so, daß der Aufstand als Synonym für Tieferliegendes verstanden wird. Der Grund für die Entstehung der ´Weberliteratur´, als einer spezifischen Form der sozialen Literatur, lag vielmehr in einer Erschütterung des bürgerlichen Selbstverständnisses. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts verbreitete sich die Erkenntnis, daß das bis zur Französischen Revolution emanzipatorisch wirkende ´Allgemeinmenschliche´ wohl doch ein spezielles, nämlich ein bürgerliches sei. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit bewährten sich im Zuge der Industrialisierung nur noch um den Preis ihrer Einengung auf die bürgerliche Klasse. Diese ideologische Trias als Deckmantel dahinterliegender ökonomischer Interessen entlarvt zu sehen, hatte eine tiefgreifende Unsicherheit und Unbehagen verursacht. Wer nun aber in der sozialen Literatur Sozialismus oder Kommunismus, gleich welcher Prägung, vorzufinden erwartet, der wird in der Regel enttäuscht. Gerade im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, gerade im Blick auf das ´Allgemeinmenschliche´ versuchen die — meist kleinbürgerlichen — Schriftsteller, in diesen Wertekanon Pauperisierte, Proletarier und sozial Deklassierte zu integrieren. In der Tat erwies sich bei diesem Versuch, das bürgerliche Konzept des ´Allgmeinmenschlichen´gegen die schlechte Realität der bürgerlichen Gesellschaft zu kehren, dessen kritische Kraft: Immer noch gelang es, vor dem Hintergrund der Idee des egalitären Humanismus Menschenunwürdiges anzuprangern. Aber, auch hieer geben man sich keinen Illusionen hin: vielfältige Brechungen und Abstufungen dieses Konzeptes, von pathetischer Deklamation über die Anrufung von Gewährsmännern — Schiller und Hegel z.B. — bis hin zu larmoyanter Klage im Vertrauen auf die Einsicht der Herrschenden und Besitzenden, erschwerenden Zugang zu ideologischen Grundlage der Texte. Eines jedenfalls ist sicher: Die Textoberfläche ist in der Regel so glatt, daß ein an ihr gebildetes Urteil am historischen Stellenwert dieser Literatur vorbeizielt. Es reicht eben nicht aus festzustellen, daß die Geschichten nach wohl-, oft sattsam bekannten Mustern angelegt sind, daß in den Gedichten schnell festgefahrene Bilder immer wieder dargeboten werden. Das Problem, wie in bekannte Muster der Literatur Neues eingebaut werden kann, und wie das Bekannte sich dann verändert, muß mit der Frage nach dem Grund der Beschaffenheit der Texte angegangen werden. Andernfalls bliebe man stehen bei leicht greifbaren Geschmacksurteilen, wie denen, daß die Texte sentimental, ´ungenießbar´oder gar — wegen der Sentimentalität — ´reaktionär´seien.
Die Themenbereiche sind, wie der Begriff ´Weberliteratur´nahezulegen scheint, schnell aufgezählt: Elend deer Weber und Spinner, Probleme der Textilarbeiter, die haus– oder fabrikindustriell produzieren, damit zusammenhängende Fragen des Unterhalts, der medizinischen Versorgung, der Dequalifizierung, Details über Lohnabzüge — die bekannten ´kleinen Diebstähle´ der Fabrikanten -, Willkür von Fabrikanten und Subalternen gegenüber den Arbeitern und vor allem immer wieder: die Enthumanisierung der brutal Ausgebeuteten. Aber der Begriff ´Weberliteratur´ führt, aufs Ganze gesehen, leicht in die Irre. Er ist geeignet, einen bestimmten thematischen Bereich zu bezeichnen, nicht aber etwa ein Genre oder gar eine Gattung; Goethes ´Wanderjahre´sind nicht ´Weberliteratur´, weil in Leonoardos Tagebuch von Webern die Rede ist; Ernst Willkomms Roman ´Weiße Sklaven oder die Leiden des Volkes´ (1845) ist kein ´Weberroman´, weil eine Gruppe der Figuren Weber ist; allgemeiner gesagt: Ein Roman ist nicht schon dann ´Arbeiterliteratur´, wenn er auch von Arbeitern handelt. Zudem birgt der Ausdruck ´Weberliteratur´noch eine Gefahr, nämlich die, daß die Schilderungen, Tableaus und Erzählungen von den Webern für authentische Abbildungen damals herrschender Verhältnisse genommen werden. Literatur, zudem fiktionale, ist schon immer eine widerspenstige und argwöhnisch betrachtete Verwandte der Geschichtsschreibung gewesen. Damit ist ein zentrales Problem dieser Art Literatur angesprochen, das im Vormärz auch die bildende Kunst beschäftigt.
3
Ein kurzer Seitenblick auf die Malerei mag das verdeutlichen. Bereits vor dem Weberaufstand hatte Carl Wilhelm Hübner ein vielbeachtetes Bild mit dem Titel ´Die schlesischen Weber´gemalt. Zahlreiche Besprechungen des Bildes machten den zur Düsseldorfer Malerschule gehörigen Maler und sein Werk bekannt. Engels meinte gar, daß das Bild ´wirksamer für den Sozialismus agitiert hat als hundert Flugschriften´4). Sicherlich richtig ist, daß eindringlich und sinnfällig der Kontrast zwischen Webern und Verlegern während einer Comptoirszene dargestellt ist. Aber über das unmittelbar Sichtbare und Dargestellte hinaus nimmt Hübner ein Element auf, welches dem Bild mehr gibt als Appell an den Gerechtigkeitssinn oder das Mitleid des Betrachters. Die Art der Darstellung des Zwischenhändlers weist deutliche Elemente der Darstellung absolutistischer Herrscher im 18. Jahrhundert auf, man denke an Rigauds Ludwig XIV . oder Duplessis´Ludwig XVI . 5) Nur gering sind haltung des Kopfes, des Stand– und Spielbeins verändert. Während aer Ludweig XIV . sich auf eine politische Machtinsignie stützt, ´stützt´sich der Verleger auf gewebtes Tuch, die Grundlage seines Reichtums und seiner Macht: Deer Verleger als absoluter Herrscher in neuer Legitimation 6), der Kapitalist im Status des Gottesgnadentums. Solcherart traditonale Elemente sind zu beachten bei der Lektüre der Texte der sozialen Literatur, sie erst ermöglichen eine angemessene Analyse der Beschaffenheit dieser Texte und bilden eine Ausgangsbasis für die Befreiung von festgeschriebenen Vorurteilen bei Lektüre und Interpretationen. In der Zeit des Vormärz spitzt sich nämlich eine Auseinandersetzung dramatisch zu, die mit Friedrich Schlegel 7) begonnen hatte und von Heine und Autoren des literarischen Jungen Deutschland fortgeführt wurde. Gemeint ist die Diskussion um die Aufgabe und Leitung von Kunst und Literatur. Soll Literatur als ´Schöne Literatur´ betrieben werden, oder muß sie nicht vielmehr auf brennende Tagesfragen schnell und ansprechend antworten, ´journalistisch´ werden? Kaum ein Schriftsteller des Jungen Deutschland und des Vormärz, deer nicht Journalist war. Ist ´Schöne Literatur´überhaupt noch angebracht angesichts politischer Unterdrückung und sozialere Misere? Dazu aus berufenem Munde zwei Stimmen. Georg Herwegh 1842: ´Ich bin und will in Ewigkeit kein Literat, kein Schriftsteller sein; ich schreibe bloß, was heraus muß und habe vor der Kunst, etwas, gleichviel was, bloß hübsch zu sagen, vor der armseligen Kunst, arige Artikelchen zu machen und kritischen Skandal zu veranlassen, den tiefsten Abscheu. Verse schmieden und schreiben, ist Millionen Menschen gegeben, das hilft nichts! (…) ich will Richtung, und da unsere Universalität ewig nicht zum Handeln kommt, einseitige Richtung .‘8) Und Ernst Dronke im Vorwort zu seiner Novellensammlung ´Aus dem Volke‘(1846): ´Diese Blätter haben eine Tendenz zu Grunde: es ist die der Wahrheit. Ich habe diese Novellen nicht geschrieben, um Novellen zu schreiben; ich geize nicht nach der Ehre ´Belletrist´zu sein. Ich habe vielmehr die ´Tendenz´, die ohne Zweifel ebensowohl in einer Broschüre, einer Kritik oder Geschichte der heutigen Gesellschaft und dergl. vor das Publikum zu bringen war, nur deshalb in das Gewand der Novelle gekleidet, weil in dieser Form der Nachzeichnung des wirklichen Lebens die Wahrheit der Verhältnisse am deutlichsten und sprechendsten vor die Augen tritt.´9)
(Vervollständigung kurzfristig)